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Privatsphäre im Internet: Vom Aussterben bedroht

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Privatsphäre im Internet: Vom Aussterben bedroht

Kürzlich veröffentlichte der Sicherheitsexperte Bruce Schneier einen interessanten Blogbeitrag, in welchem er (gemeinsam mit Co-Autor Barath Raghavan) argumentiert, dass der Grund für die kontinuierlich abnehmende Privatsphäre im Internet derselbe ist wie für die Überfischung der Meere im letzten Jahrhundert: das sogenannte «Shifting-Baseline-Syndrom». So ausdrucksstark die vorgebrachte Analogie auch ist, lässt sie doch einige Aspekte ausser Acht, und in Wirklichkeit ist es wohl noch schlechter um die Online-Privatsphäre bestellt, als die Analogie vermuten lässt.

Schneier weist darauf hin, dass Wissenschaftler das Ausmass der Überfischung lange Zeit nicht erkannt haben, obwohl sie bereits in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts einen Rückgang bestimmter Fischpopulationen beobachtet hatten:

Der Wissenschaftler Daniel Pauly stellte fest, dass Forscher, welche Fischpopulationen untersuchten, beim Versuch, eine angemessene Fangmenge zu bestimmen, einen wesentlichen Fehler machten. Es war nicht so, dass sie den Schwund der Fischpopulationen nicht erkannt hätten. Es war ihnen nur nicht bewusst, wie ausgeprägt dieser Schwund war. Pauly bemerkte, dass sich jede Generation von Wissenschaftlern auf eine andere Baseline berief, mit welcher sie aktuelle Zahlen verglichen, und dass die Baseline jeder Generation niedriger war als die der vorherigen Generation.

Schneier zufolge gleicht der Rückgang der Privatsphäre im Internet dem Schwund von Fischpopulationen auf folgende Weise:

  1. Zu Beginn war Privatsphäre im IT-Bereich gewährleistet (= es gab eine Fülle von Fischen im Meer).
  2. Dann kamen neue Technologien auf, die es einfacher machten, in die Privatsphäre von IT-Anwendern einzudringen (= Fische zu fangen), und Unternehmen verstärkten die Ausbeutung von Personendaten (= die Ausbeutung der Meere) zusehends.
  3. Jetzt vergleicht jede Generation das aktuelle Privatsphäre-Niveau (= die aktuelle Grösse der Fischpopulation) nur noch mit dem Ausgangsniveau ihrer Generation.

Weil wir den Bezug zur eigentlichen Baseline (d.h. zum ursprünglichen Referenzwert oder zum natürlichen Zustand) verloren haben, sehen wir gemäss Schneier das grosse Ganze nicht mehr und nehmen die kontinuierliche Verminderung der Privatsphäre im Internet hin.

  1. Warum wurde der historische Rückgang der Fischbestände nicht von einer Generation von Wissenschaftlern an die nächste weitergegeben? Dies kommt nicht nur einem wissenschaftlichen Versagen gleich, sondern zeugt geradezu von systematischer Ignoranz. (Ausserdem müsste es wohl immer eine gewisse Überschneidung zwischen den Generationen geben; ein klarer Schnitt mit dem völligen Verlust des früheren Bezugspunkts erscheint unplausibel.)

  2. Wenn Wissenschaftler auch ohne Kenntnis der ursprünglichen Ausgangslage erfahren, dass eine bestimmte Fischpopulation derzeit um 80% zurückgeht, weshalb sollten sie dann annehmen, dass dieser Rückgang gerade erst begonnen hat?

  3. Wenn Wissenschaftler wissen, dass eine Fischpopulation derzeit um 80% rückläufig ist, können sie berechnen, wie lange es dauert, bis diese Population ausstirbt. Dies sollte unabhängig von der Ausgangssituation von grösster Bedeutung sein.

Wo die Analogie hinkt

Schneier scheint der Meinung zu sein, dass der eigentliche Ausgangspunkt für die Privatsphäre im Internet der Zeitpunkt ist, bevor Computer mit einem globalen Netzwerk verbunden waren. Das ist noch nicht so lange her, dass sich keiner der heutigen Internetnutzer nicht mehr daran erinnern könnte. Demzufolge müsste das Altersspektrum der Internetnutzer bis zu einem gewissen Grad dem Spektrum entsprechen, wie diese das derzeitige Privatsphäre-Niveau einschätzen.

Anders gesagt, müssten ältere Nutzer (welche die Zeit vor dem Internet miterlebt haben) den jetzigen Zustand als problematisch erachten, weil sie sich noch auf die eigentliche Ausgangslage beziehen, während jüngere Nutzer (welche sich erst seit Kurzem im Internet bewegen) kaum Probleme mit dem derzeitigen Level der Onlineüberwachung haben dürften, zumal es sich nur wenig von ihrem Bezugsrahmen unterscheidet.

Allerdings scheint das Bewusstsein für Privatsphäre nicht so strikt ans Alter gebunden zu sein. Andere Faktoren spielen vermutlich eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass jüngere Menschen tendenziell technisch versierter sind, was wiederum dazu beitragen könnte, dass sie sich der vielen Möglichkeiten des Privatsphäremissbrauchs im Internet besser bewusst sind.

Landschaftsamnesie

Der stetige Rückgang der Privatsphäre im Internet und der Umstand, dass es ältere Internetnutzer gibt, die sich nicht (in ausgeprägtem Mass) gegen die digitale Überwachung wehren, lassen sich mit einem anderen Prinzip erklären: Landschaftsamnesie.

Gemäss Landschaftsamnesie ist die Verschiebung der Baseline nicht generationsbedingt, sondern erfolgt stetig auf individueller Ebene. Das hiesse, dass es für uns keine fixe Baseline gibt, sondern wir uns als Individuen langsam allmählichen Veränderungen anpassen.

Werden wir etwa gefragt, ob sich unser Quartier im letzten Jahrzehnt stark verändert hat, sind wir geneigt, das zu verneinen, weil wir uns an die vielen kleinen Veränderungen gewöhnt haben. Jemand, der zehn Jahre abwesend war, beurteilt die Situation hingegen wesentlich anders, weil diese Person die Summe der Veränderungen auf einmal wahrnimmt.

Dasselbe könnte für den Privatsphäre-Rückgang im Internet gelten. Unsere Situation ist mit derjenigen des Frosches im kochenden Wasser vergleichbar: Direkt in kochendes Wasser geworfen, würde er sofort wieder herausspringen, doch wenn das Wasser langsam erhitzt wird, akzeptiert er kleine Temperaturanstiege gemäss dem modernen Alltagsmythos so lange, bis das Wasser zu kochen beginnt und der arme Frosch nicht mehr herausspringen kann.

Genauso wären wahrscheinlich die wenigsten von uns damit einverstanden, von einem Tag auf den anderen bei praktisch jeder Interaktion mit einem digitalen Gerät überwacht zu werden. Weil diese Veränderung jedoch langsam und schrittweise erfolgte, befinden wir uns plötzlich in einer Situation, in der es völlig normal ist, ständig ein Mobilgerät bei sich zu tragen, mit dem im wahrsten Sinne des Wortes jeder unserer Schritte überwacht werden kann.

Neue Technologien, mehr Überwachung

Es gibt jedoch noch zwei weitere Faktoren, die möglicherweise dazu beitragen, dass wir den anhaltenden Rückgang der Privatsphäre im Internet weitgehend hinnehmen. Zum einen geht dieser Verlust häufig mit positiven Veränderungen einher, etwa mit praktischen neuen Funktionen oder innovativen Technologien, welche die negative Auswirkung auf die Privatsphäre abmildern oder darüber hinwegtäuschen.

In Fällen, in denen nur die Privatsphäre beeinträchtigt wird und alles andere gleich bleibt, ist der öffentliche Widerstand in der Regel grösser (z.B. bei der Übernahme von WhatsApp durch Facebook im Jahr 2014 oder bei der Anpassung ihrer Datenschutzerklärung im Jahr 2021, was beides zu einem rasanten Zulauf bei Threema führte). Eine aktuelle und beunruhigende Ausnahme bilden allerdings Gesetzesvorlagen wie die sogenannte «Chatkontrolle», welche bislang keinen bedeutenden Widerstand von der Zivilgesellschaft erfahren haben.

Zum anderen ist Online-Privatsphäre abstrakt und in vielerlei Hinsicht schwer fassbar. So können wir z.B. nicht messen, wie stark sie zurückgegangen ist, wie wir den Rückgang einer Fischpopulation beziffern können. Und es ist auch nicht so, dass es direkte, unwiderrufliche Konsequenzen wie das Aussterben einer Tierart nach sich zieht, wenn wir jetzt nicht handeln. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Situation nicht alarmierend ist.

Das «Privacy Paradox»

Dass Online-Privatsphäre so abstrakt und bisweilen schwer greifbar ist, könnte auch eine mögliche Erklärung für das sogenannte «Privacy Paradox» sein, demzufolge Internetnutzer auf der einen Seite zwar beteuern, dass ihnen Privatsphäre wichtig ist, auf der anderen Seite aber weiterhin privatsphärefeindliche Dienste verwenden.

Die Reaktion auf den Umstand, dass ein Messaging-Dienst Metadaten (d.h. Informationen darüber, wer mit wem, wann, wo usw. kommuniziert) sammelt, ist üblicherweise, dass dies zwar nicht ideal, aber auch nicht weiter tragisch sei, solange die eigentlichen Nachrichten verschlüsselt sind. Wer so reagiert, muss jedoch nicht zwangsläufig seine Privatsphäre nicht wertschätzen. Es ist schlicht nicht offensichtlich, wie invasiv und aussagekräftig Metadaten sein können. Und es ist nicht einfach, zu erklären, inwiefern der gesammelte Datensatz mehr ist als die Summe seiner Teile.

Um aufzuzeigen, dass Menschen ihre persönlichen Daten im echten Leben nicht so bereitwillig herausgeben, wie sie es online tun, haben wir einst kostenloses Eis im Tausch gegen persönliche Daten angeboten. Das war natürlich kein wissenschaftliches Experiment, sondern eine Aktion, um das Bewusstsein für Privatsphäre zu schärfen, und die Ergebnisse sind rein anekdotisch. Es könnte aber durchaus sein, dass kaum jemand bereit war, seine Daten herauszugeben, weil die Aktion eben im echten Leben stattgefunden hat. Im digitalen Raum ist es in der Regel genau andersherum.

Schluss

Wie wir gesehen haben, scheint es nicht so einfach zu sein, den Verlust der Privatsphäre im Internet aufzuhalten, indem wir als Baseline den Zeitpunkt nehmen, bevor Computer mit dem Internet verbunden waren. Neben der Verschiebung der Baseline auf individueller Ebene können noch zwei weitere Faktoren dazu beitragen, dass wir den zunehmenden Verlust der Privatsphäre im Internet weitgehend hinnehmen.

So geht digitale Überwachung zum einen häufig mit praktischen neuen Technologien oder anderen positiven Veränderungen einher, welche von negativen Auswirkungen auf die Privatsphäre ablenken. Zum anderen ist die Online-Privatsphäre aufgrund ihrer abstrakten Natur schwer zu fassen. Hinzu kommt, dass wir ziemlich abhängig geworden sind von der Technologie, die uns überwacht. Wie der Frosch sind wir vermutlich mittlerweile an einem Punkt, an dem wir nicht mehr einfach aus dem Wasser springen können.

Wir können und sollten jedoch versuchen, überzeugende Wege zu finden, die Bedeutung von Privatsphäre im Internet hervorzuheben, das Thema auf eine weniger abstrakte Ebene zu bringen, und Internetnutzern zu zeigen, welche Folgen ihre täglichen Entscheidungen für ihre Privatsphäre haben. Eine Initiative, die genau das versucht, ist der Privacy Checkup.